Nicht so stürmisch, wir haben doch Zeit – oder: Entschleunigung

«Gegensätze ziehen sich an» sagt man so, doch "zunächst sind Gegensätze überhaupt nicht anziehend. Im Gegenteil. In der ersten Phase des Verliebtseins frönen die Partner einer Illusion: Sie bilden sich ein, dass der andere genauso sei wie sie, ihr emotionales Spiegelbild. Erst wenn diese Illusion zerstört sei […], beginne die eigentliche Beziehung […]."* Es lohnt sich also zu warten – oder?
  
Vogue 12/2011
Angesichts der kürzlich überstandenen Adventszeit, dem Paradebeispiel zelebrierter Vorfreude und der Mahnung, auch ich solle mich mehr vor-freuen und nicht gleich wollen, beschloss ich Buße zu tun.
Wobei, das führt uns schon zum religiösen Aspekt des ganzen. Ist nicht "Warten" eine der Tugenden, die Religionen immer verlangen und zwar auf etwas, von dem nicht einmal gewiss ist, dass es eintreten wird?
Wenngleich Religion nun nicht meine Spezialität ist, ich aber schon immer einmal den Satz sagen wollte "Wir haben doch ein ganzes Leben, um uns kennen zu lernen", nehme ich mich dieser Sache an – falls Ihnen abends rennende Männer begegnen sollten, kommen sie vermutlich gerade von einem Tête-à-tête mit mir, denn nein, solche "großen" Sätze werden selten ironisch aufgefasst…bei mir wisse man ja auch nie so genau, heißt es dann meist als Begründung. Endlich mal eine Einschätzung die stimmt.
  
Aber ist es denn nicht so? Theoretisch zumindest. Warum die Eile?
Praktisch läuft es ja eher so ab, dass es bereits nach kurzer Zeit des Ideenaustausches  zu intimeren Kontakt kommt, vor allem wenn Alkohol im Spiel ist, die Nacht miteinander verbringt und dann erst wird überlegt, ob man sich denn nicht "besser" kennen lernen möchte. 
Als ich das Thema "sollten wir nicht alle ein bisschen entschleunigen und uns mehr vor-freuen" neulich in eine Runde warf, kam lapidar zurück: "Mira, man kauft doch keine Katze im Sack." Was selbstverständlich heißen sollte, dass der Sex stimmen müsse und das gilt es als erstes herauszufinden. Allerdings könnte man das auch umgekehrt sehen, also erst kennen lernen, dann Sex. Man kauft doch keine Katze im Sack!

Kurz, einen Mann daten, der bereits seine Sympathie eingestanden und dem man selbst seine Sympathie eingestanden, nur um sich erst einmal kennen zu lernen ist, sagen wir einmal, "altmodisch"? Ich meine man muss ja jetzt nicht gleich das Drama von Anna Plochl nachspielen, wobei Drama. Hollywood hätte es nicht besser schreiben können, mitsamt dem Happy End. Und Heirat ist nun auch nicht das Ziel des Vor-freuens, außer…Sie wissen schon.
Gerade zu entsetzte Aufschreie gibt es zu dem Thema, denn was ist, wenn nun die Chemie nicht stimmt, die körperliche, natürlich. Die geistige wurde ja überprüft. Dann hat man sich vor-gefreut und am Ende ist alles eine riesige Katastrophe. Diese hohen Erwartungen, alles viel zu kompliziert, unentspannt. 
Manchmal ist das an Weihnachten doch nicht anders. Man freut sich vor und am Ende bekommt man doch nicht die Eisenbahn, die man sich gewünscht hatte (mittlerweile sind diese Art der Dramen natürlich stark zurückgegangen, nach dem man sich jedes Jahr selbst seine Wunsch-Eisenbahn kaufen kann).

Entspanntes Kennenlernen ist heute nicht mehr. Eher angespanntes Status checken. Derweil gibt es doch nichts schöneres, als die Neugierde auf einen anderen Menschen und die Bereitschaft, sich mit dem anderen auseinanderzusetzen. Dafür muss man sich allerdings einlassen und zwar nicht körperlich, sondern seelisch. Und das kann viel schmerzvoller sein – was dann auch immer kommen mag, zumindest hatte man eine Menge (Vor-) Freude.
Ich bin dann mal wieder raus aus dem Beichtstuhl! 

Dr. Ali Binazir, der Autor des Buchs "Tao of Dating", gibt praktische Anleitung:
Tip #4: Always leave him wanting more
Dating is like a story.  It has a beginning, middle and end.  It’s got characters, cliffhangers and climaxes (if you’re lucky).  So, like Sheherezade in the legend of 1001 Arabian Nights, you want to stop the story at a point that the King wants to know what happens next so badly that he comes back for more the next day.
This is called the art of always leaving him wanting more.  It’s caressing the back of his neck so he wonders what it’s like to kiss you.  It’s kissing him on the cheek so he’ll wonder what it’s like to make out with you.  It’s wearing a provocative dress (and keeping it on) so he can’t stop wondering about what’s underneath.  It means saying you find him interesting without necessarily revealing the true depth of your affection.
It’s called keeping him guessing a little bit.  It just makes things more interesting.
Granted, it’s your party, too, so eventually you will want to taste some cake yourself.  But at least in the initial stages of courtship, you should refrain from giving away the whole store.  If you sleep with him immediately and tell him you’re crazy for him, what’s left for him to look forward to?  That’s no fun.  So keep your power by tantalizing him, but not to the point of making either of you miserable from deprivation.  The result of too much delayed gratification is often just delay." Quelle

Film: In "Die Stimme des Mondes", dem letzten Film von Federico Fellini, sagt Ivo Salvini den Satz: "Ich wache jeden Morgen nur aus reiner Neugierde auf". Das ist doch wirklich das schönste Erwachen, das man sich vorstellen kann. 

*Tillman Prüfer, SZ-Magazin Nr.47, 17.11.2011, S.31.